
Marc Girardelli mit Alexander Huber
Physik-Studium:
Wie kommt man dazu, dass nach einem Physik-Studium das Bergsteigen der Beruf wird? Hat es ein besonderes Erlebnis gegeben, dass dich dazu bewogen hatte?
Nach der Schule und zwei Jahren Zivildienst als Rettungssanitäter beim Roten Kreuz ging es für mich in die Physik. Wobei auch zu dieser Zeit schon immer klar war, für was ich wirklich brenne. Das Bergsteigen und ganz besonders das Klettern war meine wirkliche Leidenschaft. Mir war aber immer auch klar, dass Leidenschaft alleine nicht zum Leben reicht… Während der Jahre des Studiums war aber zu meinem Glück genügend Freiraum da, dass ich mich voll dem Klettern verschreiben konnte. Im Winter das Notwendige fürs Studium abarbeiten und dabei vollumfänglich trainieren, im Sommer das Studium schleifen lassen und klettern! Es war tatsächlich möglich, sich an der Spitze zu etablieren und das klettern weltweit voranzubringen. Die Folge war, dass es zunehmend Interesse an den Vorträgen gab und ziemlich schnell die Vorträge die Grundlage für das Leben wurden. 1997 hatte ich dann tatsächlich ein »sehr gutes« Diplomzeugnis als Physiker in der Hand. Und wählte bald den Weg in die Berge. Auch wenn es von außen wie ein Sprung ins kalte Wasser erscheinen mag: so war es nicht! Ich wusste aus den Jahren zuvor, dass es sehr wohl möglich ist, mit den Vorträgen als Bergsteiger eine gute Basis zum Leben zu finden. Ich gab mir die Chance…
Om (XI/9a):
Das bedeutet für Normalverbraucher recht wenig, ich kann es mir auch nicht vorstellen, weil ich nie über einen 6 Grad hinaus geklettert bin. Erkläre uns bitte diese Extrem-Route:
Der elfte Grad damals oder der zwölfte Grad heute sind natürlich für einen Außenstehenden nur schwer nachvollziehbar. Klein werden sie, die Griffe. Steil und überhängend wird der Fels. Und immer wieder reicht kein bloßes Greifen, sondern es braucht dynamisches Klettern, um die komplexen Bewegungsabfolgen zu meistern. Mir gefällt die Beschreibung der Anforderung: Kunstturnen am Fels! Nach meinem großen Vorbild Wolfgang Güllich, der 1991 mit seiner Route »Action Directe« die weltweit erste Route im Grad XI/9a kletterte, war es mir eine Ehre, den Weg fortzuschreiben. Ein Jahr später kam von meiner Seite im Berchtesgadener Land die Route »Om«, die weltweit zweite in diesem Grad. Heute ist es unter den Besten der Welt ein wohl etablierter Bereich und trotzdem war es damals für die Besten der Besten das absolute Limit und zeigt, dass beim Klettern wie auch sonst im Sport immer wieder die nächste Generation kommen wird, die es noch besser machen wird. 1994 erarbeitete ich mir mit der Erstbegehung von »Weiße Rose« am Wilden Kaiser in Tirol erstmals weltweit den Grad XI+/9a+. Eine Schwierigkeit, die heute in der Realität eines zwölften Grades nicht mehr ganz unbedingt als relevant gelten mag, und doch damals ein großer Schritt für mich selbst war, der mir alles abverlangte. Wirklich alles…
Yosemite:
In Wikipedia steht sehr viel über deine/eure Touren im Yosemite-Park. Gibt es in den Alpen nicht genauso schwere Routen und Touren, wie dort drüben? Was fasziniert dich in Kalifornien?
Zweifellos haben die Erstbegehungen im kalifornischen Yosemite Valley meinen Bruder Thomas und mich weltweit bekannt gemacht. Wir beide waren zwar schon zuvor durch unser Klettern im alpinen Raum bekannt geworden. Aber es hatte eben nochmal eine andere Dimension, wenn man sein Können nicht nur zuhause abrufen kann. Mit unseren Erstbegehungen im Yosemite konnten wir auch die internationale Kletterszene bereichern. Dort wo vormals das Klettern mit Haken, Hammer und Steigleitern zuhause war, eroberte sich das freie Klettern seine Welt. Wir zwei sind glücklich, hier als Pioniere das moderne Klettern vorangebracht zu haben. Und das Yosemite Valley an sich ist ja schon der Hammer. The Center oft he Climbing Universe! Da kommt alles zusammen. Hier spielt die Musik… Man sieht das nicht zuletzt am »Free Solo« von Alex Honnold.
Cho Oyu:
Bei deinem herausragenden Bergsteiger-Palmares findet man nur den Cho Oyu als 8000er. Hat dich das Höhenbergsteigen nicht so angeregt?
Die Achttausender sind die höchsten Berge der Welt. Allein darin begründet sich schon die magische Anziehungskraft der Berge! Hier kann der Mensch höher hinaufsteigen als irgendwo sonst. Und genau aus diesem Grund war auch für lange Zeit die Aufmerksamkeit gerade auf diese 8000er konzentriert. Als 1978 Reinhold Messner und Peter Habeler allerdings auch den Mount Everest ohne künstlichen Flaschensauerstoff besteigen konnten, stellten sich viele die Frage: »Und was kommt jetzt? War’s das jetzt?« Eins war klar: das Bergsteigen konnte sich nicht mehr weiter in die Höhe entwickeln. Neue Ziele mussten gefunden werden.
Ogre:
Einer der schwierigsten grossen Berge ist nicht der höchste. Was war das Besondere am Ogre?
…nach den Achttausendern wurden mit einem Mal andere Berge relevant. Und ja, es stellte sich heraus, dass die höchsten Berge der Welt, die Achttausender, nicht die schwierigsten Berge der Welt sind. Der Berg ist eben nicht einfach nur ein eindimensionales Gebilde. Es gibt nicht nur die reine Höhe eines Berges als relevante Größe sondern dazu auch noch die Steilheit und Komplexität seiner dreidimensionalen Struktur. Und da sind die Berge der Latokgruppe mit dem Ogre als höchstem Gipfel tatsächlich das Anspruchsvollste, was unser Planet zu bieten hat.
Dein Bruder Thomas:
Es ist immer viel schöner, wenn man Erfolge und Projekte mit anderen umsetzt. Man ist zusammen erfolgreicher. War das mit Thomas eine Zweckgemeinschaft oder könnt ihr einfach so gut zusammen?
Thomas und ich sind seit Jahrzehnten zusammen in den Bergen und im steilen Fels unterwegs. Wir beiden wissen voneinander, dass immer dann, wenn wir unsere Kräfte zusammenlegen, für uns das Beste dabei rauskommt. Vieles von dem, was wir beide erreicht haben, hätten wir ohne den anderen nicht erreicht. Darüber hinaus braucht es eine gewisse Unabhängigkeit, die es zulässt, dass auch Einflüsse von außen kommen. Denn die Entwicklung schreitet stetig voran. Nichts ist so beständig als der Wandel . Und genau deswegen tut es auch gut, mit der nachkommenden Generation zusammen am Weg zu sein. Von diesem Austausch profitieren wir alle. Denn eins ist klar: am schönsten ist es genau dann, wenn wir es gemeinsam geschafft haben!
2005, schwere Verletzung nach Absturz:
Dein Absturz erinnert mich an das Drama um Thomas Bubendorfer. Wie kam es dazu, was für ein Gefühl/Angst verspürtest du nach dem Pech des herausgebrochenen Felsstückes in deiner Hand?
Es war wirklich ein kurzer Ausflug zum Ende, ein Urknall. Ich war Herbst 2005 im Yosemite Valley mit Kameramännern unterwegs, um diverse Kamerapositionen zum Filmen zu besprechen. Es ging eigentlich um die Dokumentation zum Film »Am Limit«. Aber mit einem Mal war alles anders. Mit der linken Hand, mit der ich mich abstütze, löste sich eine Felsplatte. Die Felsplatte fiel auf meinen linken Fuß, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Reflexartig versuchte ich mich irgendwo im Fels festzuhalten. Nichts. Nichts war da. Und dann ging es ab.Im Richtung Abgrund. Im letzten Moment ein blitzartiger Gedanke. Spring´ ab! Ich drehte mich 180 Grad, schaute in den Abgrund und drückte mich mit beiden Beinen ab. Alles kam rasend schnell auf mich zu, keine Zeit mehr du denken. Nur noch reagieren. Ich landete in eine steile Felsplatte hinein. Zuerst mit den Beinen, dann mit dem Hinterteil und es ging weiter. Im weiten Bogen katapultierte es mich nach vorne, ich segelte durch die Luft… Es folgte eine Explosion, ich schlug ein. 15. September 2005. 12 Uhr 35 und ich war noch am Leben – nach insgesamt 16 Meter Fallhöhe. Ich hatte mir meine Füße verletzt, hatte aber – wie es sich aber später herausstellen sollte – nur schwere Prellungen der Fußgelenke erlitten. Ich war am Abgrund des Lebens, konnte mich aber retten – ich war glücklich. Glücklich, überlebt zu haben.
Was war neben diesem Ereignis dein gefährlichster Moment im Klettern, wo du nicht mehr weiter wusstest und keinen Ausweg mehr gesehen hattest?
Für mich persönlich wird es immer dann problematisch, wenn ich auf Situationen stoße, in denen ich die Situation nicht wirklich kontrollieren kann. Unsicherheiten mag es ja immer geben, aber wenn ich schon von vornherein weiß, dass es unangenehm wird, dann wird es wirklich übel. Und wirklich übel wurde es 1997, als Thomas und ich zusammen mit Toni Gutsch und Conrad Anker am 7108 Meter hohen Latok II den Abstieg angetreten hatten. Wir waren zuvor zehn Tage für die Erstbegehung der Westwand unterwegs und nach dem Gipfel galt es jetzt, möglichst sicher den Weg zurück zu finden. Aber dieser Abstieg wurde noch einmal ein Abenteuer für sich. Wir seilten über eine Wand ab, deren Zustand sich in den Tagen des Aufstiegs durch das schöne Wetter rapide verschlechtert hatte. Eine riesige Steinlawine riss zwei unserer Haulbags mit sich in die Tiefe: 50 Kilo Material, die Hälfte von dem, was wir in der Wand dabei hatten, war verloren. In der Nacht auf 5600 Meter durchschlug ein faustgroßer Stein das Zelt, der Berg zeigte uns unmissverständlich, dass wir hier nichts mehr verloren haben. Wir räumten das gesamte Lager ab. Um die große Menge Material abzutransportieren, stiegen wir in der Nacht noch zweimal durchs Couloir. Jeder trug bis zur totalen Erschöpfung. Und in dieser Nacht, obwohl das Ziel, die Sicherheit, schon zum Greifen nahe war, hatten wir das erste Mal wirklich Angst. Angst vor dem, was passieren könnte.
Mit meinen 56 Jahren kenne ich meinen Körper ziemlich gut und weiss, dass ich weit weg bin von meiner Form vor 30 Jahren. Wie stufst du dein Leistungsniveau ein im Verhältnis vor 30 Jahren? Kannst du deine körperlichen Mankos mit Erfahrung und Technik ausgleichen?
Wir sind heute vom Leistungsniveau her gesehen ganz natürlich nur noch ein Schatten von dem, was uns damals möglich war. Im gewissen Sinne profitieren wir ganz einfach davon, dass im hochalpinen Bereich Erfahrung und gute Technik einiges kompensieren können. Wir sind aber weit entfernt davon, uns im Sportklettern mit den Besten der heutigen Zeit zu messen. Alles hat seine Zeit!
Irgendwo habe ich gelesen, dass du Angststörungen hättest. Ich kann das kaum glauben. Was haben dann wir, wenn uns schon die Knie zittern, wenn wir über eine schmale Brücke laufen müssen?
Im Bergsteigen, im Klettern bin ich sicher ein Profi im Umgang mit der Angst. Und das ist auch wichtig. Denn die Angst ist meine wichtigste Überlebensversicherung. Die Angst lenkt und leitet mich, die treibt mich an oder bremst mich. Sie zeigt mir am Berg den richtigen Weg. Allerdings lief auch in meinem Leben für längere Zeit nicht alles immer so rund, wie es laufen sollte. Und vielem, was mir Angst machte, ging ich aus dem Weg. Bis es mich dann in einem Moment der Schwäche mit voller Wucht einholte. Eine der besten Entscheidungen in meinem Leben war dann, professionelle Hilfe zu suchen. Denn es ist alles andere als ein Selbstläufer, mentale Stärke im Bergsteigen auf den Alltag zu übertragen!
Wenn du mal frei hast, gehst du auch ganz normal wandern mit Familie oder Freunden, ohne gleich die schwierigsten Wände ohne Sicherung hoch zu rennen?
Für mich ist die freie Zeit genau gleich und genauso wichtig wie für jeden anderen sonst! Ich liebe es und brauche es, den Tag zu nehmen, wie er kommt. Und ich weiß es auch, den Tag zu genießen. Das ist die Grundlage, Energie und Basis dafür, dass ich am nächsten Tag wieder die gewisse Leistung abrufen kann!
Wir haben ja in Ischgl bei meinem Hero‘s-Event schon mal für deine Himalaya-Karakorum-Hilfe Geld gesammelt. Erzähl uns mal etwas mehr, was du seit Jahren mit deinen Aktivitäten leistest.
Thomas und ich sind zusammen mit der Berchtesgadenerin Barbara Hirschbichler seit über zwanzig Jahren im zentralen Karakorum bemüht, die Lebensbedingungen der Baltis zu verbessern. Wenn es anfangs vor allem um sichere Wasserversorgung, sauberes Trinkwasser und besseres Saatgut ging, so sind es heute vor allem die Bereiche der Gesundheitsversorgung und Bildung. Wir sind glücklich, dass heute die Baltis aus eigener Kraft an der Universität ausgebildete Lehrkräfte in ihren Dorfschulen haben und so für die Zukunft ihres eigenen Bergvolkes arbeiten.
Lieber Alexander, ich danke dir für dieses interessante Gespräch.
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